Erdogans ruhiger Herausforderer Ekmel
Recep Tayyip Erdogan

09.08.2014
Die Polizisten werden nervös, ihre Funkgeräte quäken, und da ist sie auch schon, die Traube von Kameramännern, Bodyguards und schwitzenden Anzugträgern um den Kandidaten. Es ist zehn Uhr morgens, die Händler im Basar der türkischen Schwarzmeermetropole Samsun sitzen vor ihren Geschäften, trinken Tee und blicken auf das vorbeiziehende Spektakel.
Die Kolonne zieht weiter, bis sie vor einem Stand mit Oberhemden stoppt. Jetzt erst kann man den gut gekleideten Herrn mit dem weißen Schnurrbart in ihrer Mitte erkennen. Es ist Ekmeleddin Ihsanoglu, der Kandidat der zwei größten türkischen Oppositionsparteien bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag, zu der rund 53 Millionen Türken aufgerufen sind.
Plötzlich Aufruhr
Ekmel Bey, Herr Ekmel, wie man ihn nennt, da kaum ein Türke den arabischen Vornamen aussprechen kann, wechselt ein paar Worte mit einem Händler, schüttelt Hände für die Kameras, und schon geht es weiter durch die engen Gassen. Alle fünfzig Meter wiederholt sich das Spektakel, Händler und Verkäuferinnen grüßen, aber irgendetwas stimmt hier nicht: Da kommt der mögliche künftige Staatspräsident, um Wahlkampf in einer der größten Städte des Landes zu machen – und es bleibt still. Keine Hochrufe, kaum einmal Klatschen, zwar neugierige, aber reservierte Gesichter.
Umstehende Händler sagen, es gebe durchaus Sympathien für Ihsanoglu, er sei integer, ehrlich und fromm, aber niemand traue sich, offen für ihn Partei zu ergreifen. „Man würde sofort Ärger bekommen“, sagt ein Goldhändler. Ein Kollege vom Haushaltswarengeschäft nebenan nickt. „Niemand möchte sich mit denen da oben anlegen“, sagt er.
Der fehlende Beifall für den Oppositionskandidaten ist das eine – das andere die wie aus dem Nichts aufflackernde Aggression. Als Ihsanoglu sich zum Ende seines halbstündigen Rundgangs mit einigen Kaufleuten vor einem Laden zum Tee hinsetzt, beschweren sich Arbeiter bei ihm über die schlechte Behandlung durch einen Patron. Plötzlich Aufruhr, zwei Männer brüllen, stürzen sich wütend auf die Reklamanten – bis Ihsanoglus Bodyguards sie überwältigen und abführen. „Das passiert leider überall“, sagt ein Mitarbeiter aus dem Wahlkampftross. „Die Erdogan-Anhänger sind nicht zu bremsen.“
Je näher der Wahltermin rückt, desto größer die Spannung. Das Land ist nervös, denn es steht vor dem historischen Umbruch zwischen Demokratie und Autokratie, wie viele Beobachter glauben. Recep Tayyip Erdogan, der 60-jährige übermächtige Ministerpräsident und Chef der regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), bewirbt sich um das Amt des Staatspräsidenten, das bislang sein Parteifreund und langjähriger Wegbegleiter Abdullah Gül innehat.
Wegen einer parteiinternen Richtlinie, die AKP-Mitgliedern mehr als drei aufeinanderfolgende öffentliche Amtszeiten verbietet, kann Erdogan bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr nicht wieder als Premier antreten. Sollte er Staatspräsident werden, werde er kein sanfter, repräsentativer Amtsträger sein, kündigte er bereits an, sondern die exekutiven Befugnisse der Verfassung bis zum Äußersten ausreizen.
Erdogans größter Gegner ist der konservativ-liberale 71-jährige frühere Diplomat und Islamwissenschaftler Ekmeleddin Ihsanoglu. Den tief religiösen Mann haben die beiden größten Oppositionsparteien, die sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP) und die rechte Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) als Gemeinschaftskandidaten aufgestellt, um in Erdogans konservative Wählerschaft einzubrechen. Ihrem Bündnis haben sich mittlerweile 13 kleinere, nicht im Parlament vertretene Parteien von rechts bis links angeschlossen.
Der dritte Kandidat ist eine kleine Sensation, denn mit Selahattin Demirtas tritt erstmals ein prokurdischer Politiker in einer landesweiten Wahl an. Der 41-jährige Menschenrechtsanwalt ist Ko-Vorsitzender der linken Partei der Völker (HDP), deren Wähler bisher vor allem aus den rund 15 Millionen Kurden des Landes stammen, die aber auch auf die Linken, die Arbeiter und die Minderheiten zielt.
Alle drei Bewerber haben die Abstimmung zur Schicksalswahl erklärt. Erdogan will als Präsident eine „neue Türkei“ schaffen und damit „die Macht der Türkei stärken“, die beiden anderen Kandidaten warnen vor einer heraufziehenden Diktatur, falls Erdogan gewinnt. Nach einer aktuellen Wahlumfrage liegt der Premier erwartungsgemäß mit rund 57 Prozent der Stimmen vorn, während Ihsanoglu mit 34 und Demirtas mit neun Prozent rechnen können. Doch es gibt bei diesem Urnengang mit seiner nur knapp sechswöchigen Wahlkampfzeit zu viele Unbekannte. „Es ist praktisch unmöglich, eine seriöse Vorhersage zu machen“, sagt Mehmet Atalay, der CHP-Vorsitzende von Samsun, der seinen Kandidaten am Donnerstag durch den Basar führt.
Der 56-jährige Ingenieur, der wie Ihsanoglu gut Englisch spricht, sagt: „Mit wenigen Ausnahmen ist die Schwarzmeerküste Erdogan-Land.“ Die Familie des Premiers stammt aus der Teeanbaustadt Rize, auch in Samsun regiert die AKP seit drei Wahlperioden mit einer soliden Mehrheit. „Wir haben es schwer hier, aber die AKP arbeitet auch mit absolut unfairen Mitteln.“ Atalay schätzt, dass auf tausend Erdogan-Plakate in der Stadt eines von Ihsanoglu kommt, während Demirtas im Wahlkampf öffentlich praktisch nicht vorkommt.
Geldgeschenke in den Dörfern
Erdogan könne als Regierungschef staatliche Mittel für seine Kampagne nutzen, auf die die Opposition keinen Zugriff habe, sagt Mehmet Atalay. „Er lässt Geld in den Dörfern verteilen. Er verfügt über einen Etat von umgerechnet 80 Millionen Euro, während wir drei Millionen haben. Die großen Medien werden von der Regierung kontrolliert und geben uns bedeutend weniger Sendezeit als Erdogan. Als wir beantragten, Plakate an Brücken und öffentlichen Gebäuden aufzuhängen, wurde das abgelehnt. Umso verblüffter waren wir, als dann dort überall Erdogan-Poster hingen.“ Atalay spricht über die tiefe Spaltung des Landes, die Erdogan mit seiner „extrem rechten Politik“ und seinen „Hassreden“ gegen Minderheiten und die Opposition jeden Tag mehr vertiefe. Mehrfach seien CHP-Mitglieder angepöbelt, bedroht und verprügelt worden, als sie Flugblätter verteilen wollten. „Natürlich sind die Menschen eingeschüchtert. Es herrscht keine offene, demokratische Atmosphäre.“
Die größte Unbekannte aber ist die Wahlbeteiligung, denn die Wahl wurde auf den für die Türkei denkbar ungünstigsten Termin gelegt. Der Fastenmonat Ramadan ist vorbei, alle Schulen und Universitäten sind geschlossen, es ist Ferienzeit. Wer es sich leisten kann oder ein Haus an der Küste besitzt, ist ans Mittelmeer gefahren. Da es keine Briefwahl gibt, hat die AKP offenbar darauf gesetzt, dass die gut situierte Anhängerschaft der säkularen Opposition nicht daran denkt, sich am Urlaubsort ins Wahlregister eintragen zu lassen. „Die Gefahr ist da. Aber ich habe mit Freunden telefoniert, die im Urlaub sind“, sagt Mehmet Atalay. „Sie haben mir versprochen, dass sie wählen gehen.“
Trotzdem könnte es sein, dass Erdogan sich verkalkuliert hat. Denn nicht nur die besser verdienenden Oppositionswähler aus der Mittelschicht, sondern auch viele seiner Anhänger aus den unteren Einkommensschichten sind im August nicht zu Hause. Derzeit ist Hochsaison im Tourismus und Erntezeit. Millionen von Wanderarbeitern haben ihre Dörfer in Ostanatolien und am Schwarzen Meer verlassen, um in den Hotels an der Ägäis zu jobben oder Pfirsiche, Kirschen und Haselnüsse in den Anbaugebieten einzubringen.
„Wir können hier nicht wählen“, sagt die 23-jährige Neslihan Atlihan aus der kurdischen Stadt Adiyaman, die mit zwölf Schwestern, Brüdern und Tanten derzeit in den steilen, dicht mit Sträuchern bewachsenen Hügeln bei Giresun Haselnüsse pflückt. „Wir sind 15 Tage hier, um Geld zu verdienen – ich kann nicht 19 Stunden mit dem Bus nach Hause fahren“, sagt die junge Frau. Obwohl sie und ihre Verwandten Kurden sind, schwören sie auf Erdogan. „Er hat uns Frieden gebracht, er gibt uns Kindergeld und Kohle im Winter.“ Doch nüchtern betrachtet, hat Erdogan allein auf diesem Haselnusshügel zwölf Stimmen verloren.
Immerhin kann er auf die meisten Bauern zählen, auf deren Land die Pflücker arbeiten. „Wir wählen Erdogan, weil er uns unterstützt. Für jeden Hektar Land bekommen wir einen Zuschuss vom Staat“, berichten der 33-jährige Ali Arslan und seine fünf Jahre jüngere Frau Ayse, denen fünf Hektar Land mit Haselnusssträuchern in einem Bergdorf bei Samsun gehören. „Übers Jahr ergibt das 4 000 Lira“ – rund 1 350 Euro. Für die AKP sprechen seiner Meinung nach viele weitere Faktoren. „Diese Regierung hat eine richtige Straße in unser Dorf gebaut. Jeden Tag kommt jetzt ein Bus. Wenn wir krank werden, kommen Ärzte ins Dorf und helfen.“
Und doch hat eine große Verunsicherung die Menschen zwischen Rize und Samsun befallen. Sie spüren die Anzeichen einer Krise. Im Basar sind sie zwar für Erdogan, aber sie haben Angst vor der Zukunft. „Seit dem vergangenen Dezember sind unsere Umsätze um mehr als 30 Prozent eingebrochen“, sagt der 29-jährige Kleidungsverkäufer Arkan. „Die Leute aus den Dörfern kommen nicht mehr, weil sie ihr Geld für Lebensmittel brauchen.“ Arkan erklärt sich die ökonomischen Probleme mit dem Hass böswilliger Feinde auf Erdogan. „Die ausländische Presse will nicht, dass es der Türkei gut geht“, sagt er.
Die Schwarzmeerregion spürt die aufziehende Krise besonders stark. Die Arbeitslosigkeit liegt nahe 20 Prozent. Nicht nur das Land, auch die großen Städte verlieren Einwohner, die nach Istanbul oder an die Ägäisküste auswandern.
Die AKP-Politiker der Region betonen vor allem das Positive. „Die Leute sehen unsere Erfolge: den neuen Flughafen, die Umgehungsstraßen, die Subventionen“, sagt Hüseyin Akyol, der Parteichef in der Provinz Ordu. „Erdogan ist emotional, entschlossen und aggressiv. Die Menschen in der Türkei wollen keine Langweiler.“
Laute Lieder
So gesehen war die Opposition schlecht beraten, einen vorsichtigen Gentleman wie Ihsanoglu für die Präsidentschaftswahl aufzustellen. Zum Abschluss seiner Tour durch Samsun erwarten ihn mehr als 300 Männer und Frauen im Vortragssaal eines großen Hotels. Laute Lieder und kurze Reden sollen für Stimmung sorgen.„Er spricht fünf Sprachen! Er ist Honorarprofessor von 20 Universitäten! Er wird Lösungen bringen für die Türkei: Professor Doktor Ekmeleddin Ihsanoglu!“, ruft ein Sprecher. Zum donnernden Wahlkampfsong, der dem seines Konkurrenten kaum nachsteht, betritt der Kandidat den Saal.
Doch er tritt nicht an ein Rednerpult, sondern nimmt an einem kleinen Tisch Platz und beginnt mit sanfter Stimme seinen Vortrag. Ekmeleddin Ihsanoglu spricht über die gefährliche Spaltung des Landes, über den unfairen Wahlkampf und über die sozialen Hilfen, die bereits frühere Regierungen einführten. Er sagt, dass Erdogan über einen Boykott israelischer Waren rede, während sein Sohn diese importiere. Er sagt: „Die Regierung hat 18 Millionen mehr Stimmzettel drucken lassen, als gebraucht werden. Wozu?“ Argumentativ ist er gut, aber er verliert die Zuhörer. Manche beginnen zu tuscheln, andere stehen bereits auf und gehen, ein Mann sagt: „Er ist zu weich. Er müsste auf den Tisch hauen.“
Ihsanoglu scheint die Veränderung zu spüren und hebt endlich einmal die Stimme: „Die Türkei ist von einem Ring aus Feuer umgeben! Syrien, Irak, Isis, überall brennt es! Aber der Ministerpräsident löscht nicht, sondern gießt noch Öl hinein!“ Die Menschen klatschen, stehen auf. Zum Schluss appelliert der Kandidat an seine Zuhörer, unbedingt zur Wahl zu gehen. „Es geht um unsere Zukunft. Lasst nicht zu, dass das politische System geändert wird. Gebt eure Stimme für die Einheit!“ Ein junger Mann sagt: „Mir hat er gefallen. Das Land braucht nicht noch mehr Aufregung. Wir brauchen einen, der uns beruhigt und zusammenführt.“